Die Ohrenqualle zählt nicht unbedingt zu den populärsten Lebewesen in der Nord- und Ostsee, zumindest aus Sicht der Badegäste. Aber das spielte keine Rolle, als sie unlängst in Kiel zur Namensgeberin einer ungewöhnlichen Konstruktion wurde. Das glibberige Nesseltier mit der zoologischen Bezeichnung „Aurelia aurita“ hat nämlich optisch eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Auftriebskörper eines neuen Wellenkraftwerks, das Mitte Mai erstmals zu Wasser gelassen wurde. Und so wurde es unter dem Applaus zahlreicher Gäste feierlich auf den Namen „Aurelia WINO“ getauft.
Der zweite Teil des Namens steht für „Wellenkraftwerk in Nord- und Ostsee“, erklärt Professor Christian Keindorf. Der promovierte Diplom-Ingenieur lehrt seit 2015 an der Fachhochschule Kiel und hat das Forschungsvorhaben mit seinem Team entwickelt.
Anspruchsvolles Projekt für den Nachwuchs
Keindorf: „Dieses Projekt war nur möglich, weil sich zahlreiche Personen mit großem Engagement eingebracht haben. Dazu zählen unter anderem zwölf Studentinnen und Studenten unserer FH, die über Studien- und Abschlussarbeiten und als studentische Hilfskräfte an dem Vorhaben beteiligt waren.“ Gebaut wurde der Prototyp dann von 28 Azubis der beiden Werften German Naval Yards Kiel (GNYK) und Thyssenkrupp Marine Systems (TKMS), die tatkräftig von ihren Ausbildern und Berufsschullehrern unterstützt wurden.
Das war nicht nur für die jungen Nachwuchskräfte spannend, sondern auch für ihre Betreuer. GNYK-Ausbildungsleiter Helge Krambeck: „Wir sind wirklich stolz darauf, dieses Projekt gemeinsam mit unseren Azubis durchgeführt zu haben. Es war ein sehr anspruchsvolles und interessantes Vorhaben, bei dem die Azubis viele Zusammenhänge aus den Bereichen Materialbestellung, Planung, Fertigungsverfahren und Koordinierung der verschiedenen Gewerke gelernt haben.“
Betreuung durch FH-Ingenieur
Seitens der Fachhochschule Kiel wurde der Bau vom Ingenieur Andreas Glaß betreut, der mehrmals pro Woche zwischen seinem Büro auf dem Campus und der Halle 11 auf dem Werftgelände pendelte. Er war im Januar 2020 als wissenschaftlicher Mitarbeiter in das Projekt eingestiegen, nachdem er an der FH den Bachelorstudiengang Offshore Anlagentechnik und den Masterstudiengang Maschinenbau absolviert hatte.
Glaß: „Mich hat von Anfang an die Vielseitigkeit der Aufgabe gereizt. Wir mussten numerische Berechnungen in der Hydro- und Strukturdynamik anstellen, haben Experimente im Strömungs- und Wellenlabor vom Institut für Schiffbau und maritime Technik durchgeführt, den Prototyp entwickelt, und am Ende durfte ich die Fertigung bei German Naval Yards betreuen. Diese anspruchsvolle Aufgabe zu meistern, war eine einmalige Chance für mich.“
Wie eine überdimensionierte Stab-Boje
Wie ambitioniert das Vorhaben war, wird deutlich, wenn man vor dem fertigen Prototyp steht, der nach der Taufe wieder in die Halle 11 von German Naval gebracht wurde. Die Azubis der zwei Werften haben eine beeindruckende Konstruktion gebaut, die acht Tonnen wiegt und zwölf Meter hoch ist.
Aus der Ferne betrachtet wirkt das stählerne Objekt wie eine überdimensionierte Stab-Boje, und dieser Vergleich ist durchaus passend, wie Christian Keindorf bestätigt. „Unser Kraftwerk steht senkrecht im Wasser und wird dort lediglich von Ankerketten gehalten“, erklärt er. „Die Konstruktion ist von einem frei beweglichen, ringförmigen Schwimmkörper umgeben, der jede Menge Auftrieb hat und vom Wechselspiel der Wellen immer wieder hochgehoben wird.“
Nennleistung von 32 Kilowatt
Um zu verstehen, wie damit Strom erzeugt wird, reicht Basiswissen aus dem Physikunterricht. Denn das Prinzip ist das gleiche wie bei einem Fahrraddynamo – auch wenn wohl nur noch die Älteren unter uns damit unterwegs sind (alle anderen nutzen vermutlich Aufstecklichter mit Akku). Im Dynamo dreht sich ein Magnet innerhalb einer Spule aus Kupferdrähten und produziert so Strom. Im Kieler Wellenkraftwerk geschieht Ähnliches, allerdings mit dem Unterschied, dass die Bewegung keine rotierende, sondern eine lineare ist, bei der zwei Spulenkörper durch ein Magnetfeld gleiten.
Die Konstruktion kommt so auf eine Nennleistung von 32 Kilowatt, was eher bescheiden wirkt, wenn man sie an modernen Windturbinen in Offshore-Parks misst. Die liegen inzwischen bei Leistungswerten von zehn Megawatt und mehr.
Test in der Nordsee vor Sylt geplant
Professor Keindorf nickt: „Das stimmt“, sagt er, „aber Sie dürfen nicht vergessen, dass die aktuelle Anlage nur ein Prototyp ist. Als Nächstes planen wir Modelle, die etwa achtmal so groß sind. Im Übrigen waren auch die ersten Windturbinen sehr klein und hatten eine Nennleistung im Kilowattbereich, als man in Deutschland mit dem Bau von Windparks begann. Und heute sind sie so leistungsfähig, dass bereits ein Viertel unseres Strombedarfs aus Windkraft stammt.“
Ehe die neuen Modelle gebaut werden können, muss Aurelia WINO aber noch auf hoher See getestet werden. Mit der Offshore-Forschungsplattform „FINO3“ rund 80 Kilometer westlich vor Sylt stünde auch schon der passende Standort zur Verfügung – zumal die Plattform vom Forschungs- und Entwicklungszentrum der FH Kiel betrieben wird. Keindorf: „Für die Umsetzung dieser Pläne suchen wir noch Kooperationspartner, um den Transport und die Installation auf See durchführen zu können.“
Keine Belastung für das Ökosystem Meer
Die Perspektiven sind nach Einschätzung des Professors für erneuerbare Offshore-Energien sehr vielversprechend, denn für das Wellenkraftwerk spricht noch ein weiteres Argument: Es ließe sich perfekt mit Windturbinen kombinieren. So könnten Seegebiete, die ohnehin für die Energieerzeugung reserviert und bereits verkabelt sind, noch viel effizienter genutzt werden, ohne das Ökosystem Meer zusätzlich zu belasten.
Denn das Kraftwerk schwimmt senkrecht im Wasser und muss nicht aufwendig über Rammpfähle im Meeresboden verankert werden. Andreas Glaß: „Wir nutzen Betonklötze mit Ankerketten, die später vollständig geborgen werden können. Der Footprint auf dem Meeresboden ist minimal, es findet keine Flächenversiegelung statt.“
Das Material ist überwiegend recycelbar
Und auch oben auf der Wasseroberfläche hat der Betrieb des Wellenkraftwerks nach Einschätzung seiner Entwickler kaum störende Effekte für die Fauna und Flora. Im Gegenteil, die Wissenschaftler erwarten sogar, dass einige Vögel das Wellenkraftwerk als Rastplatz auf dem offenen Meer nutzen. Zudem gibt es – anders als bei Windkraftanlagen – keine rotierenden Teile, sodass selbst im Vollbetrieb bei starkem Wellengang kaum Schallemissionen zu erwarten sind.
Auch bei der konstruktiven Entwicklung legten die Kieler großen Wert auf Nachhaltigkeit und Ressourcenverbrauch. Das verwendete Material ist überwiegend recycelbar, und die Magnete sollen für eine mögliche Wiederverwendung aufbereitet werden können.
Experten sehen riesiges Potenzial
Übrigens sind die Schleswig-Holsteiner nicht die Einzigen, die sich mit der Nutzbarmachung von Wellen befassen. So arbeitet etwa das schwedische Start-up Corpower Ocean an einer Anlage vor der portugiesischen Küste, andere Projekte dürften in absehbarer Zeit folgen.
Kein Wunder, Branchenexperten wie die Wissenschaftler der Internationalen Organisation für Erneuerbare Energien Irena sehen ein riesiges Potenzial in der Nutzung von Wellenkraft. Nach ihren Berechnungen ließe sich eine Leistung von rund 500 Gigawatt (500 Milliarden Watt) realisieren, wenn man die Energie der Meereswellen nur an 2 Prozent der weltweiten Küsten in elektrische Energie umwandeln würde. Zum Vergleich: Die etwa 440 Kernreaktoren, die momentan weltweit (noch) in Betrieb sind, haben eine Gesamtleistung von knapp 400 Gigawatt.
Förderung durch Wirtschaftsministerium und EU
Ähnlich hoch fällt die Schätzung des Weltklimarats (IPCC) aus. Er rechnet mit einem „theoretisch“ verfügbaren Maximum von jährlich 30.000 Terawattstunden (30 Billionen Kilowattstunden) durch Wellenkraft. Damit ließe sich der komplette Stromverbrauch Europas gleich zehnmal decken.
Man darf also gespannt sein, wie sich das Kieler Projekt weiterentwickelt. Letztlich ist es auch eine Frage des Geldes. Immerhin, das Schleswig-Holsteiner Wirtschaftsministerium förderte das Vorhaben über einen Zeitraum von dreieinhalb Jahren mit rund 530.000 Euro zusammen mit Mitteln der EU.
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Der gebürtige Westfale ist seit über 35 Jahren im Medienbereich tätig. Er studierte Geschichte und Holzwirtschaft und volontierte nach dem Diplom bei der „Hamburger Morgenpost“. Danach arbeitete er unter anderem bei n-tv und „manager magazin online“. Vor dem Wechsel zu aktiv im Norden leitete er die Redaktion des Fachmagazins „Druck & Medien“. Wenn er nicht in den fünf norddeutschen Bundesländern unterwegs ist, trainiert er für seinen dritten New-York-Marathon.
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