Wer schon mal in einem großen Kommissionierlager gearbeitet hat, der weiß: Für diesen Job braucht man die Kondition eines Langstreckenläufers, selbst wenn man für den Weg durch die Regalreihen ein Elektrofahrzeug nutzen kann. Die Arbeitsschritte sind immer die gleichen: Fahrzeug stoppen, absteigen, Ware aus dem Regal holen und auf die Palette legen, wieder aufsteigen und weiterfahren. Und das den ganzen Tag. Da weiß man abends, was man getan hat.
Doch nun gibt es Abhilfe. Der Intralogistik-Spezialist Still hat ein Kommissionierfahrzeug entwickelt, das mit künstlicher Intelligenz ausgestattet ist. Es interagiert wie ein menschlicher Teamkollege mit seinem Bediener und folgt ihm auf Schritt und Tritt. Voll autonom und extrem zuverlässig. Und alles ohne Implementierungsaufwand, denn das aufwendige Programmieren von Fahrstrecken in der Lagerhalle ist nicht erforderlich.
Mehr Arbeitsleistung, weniger Risiken
Der Nutzer kann sich so ganz auf seine eigentliche Tätigkeit konzentrieren und ungestört arbeiten, ohne kraft- und zeitraubendes Auf- und Absteigen vom Fahrzeug. Das erhöht die Arbeitsleistung und reduziert mögliche Risiken, ohne dem Mitarbeiter zusätzlichen Stress zu bescheren.
Der Titel auf der Visitenkarte des Still-Ingenieurs, der diese rollende Innovation gemeinsam mit seinem Team entwickelt hat, ist beeindruckend. „Head of intelligent autonomous software development at Kion mobile automation“, ist dort zu lesen. Volker Viereck lacht. „Herzlich willkommen bei Still“, sagt er. „Wenn Sie möchten, führen wir Ihnen das Fahrzeug gleich mal vor.“
Der OPX iGo neo berechnet automatisch Ausweichrouten
Vierecks Kollege Tino Krüger-Basjmeleh setzt den Horizontalkommissionierer namens „OPX iGo neo“ in Bewegung, und der tut genau das, was er auch in den Lagerhallen der Kunden tun soll: Er folgt dem Bediener auf Schritt und Tritt und bremst sogar eigenständig ab, sobald eine Quergasse erreicht ist. Erst nach einer Bestätigung durch den Bediener passiert das Fahrzeug die Kreuzung.
Das neue Fahrzeug von Still steigert die Arbeitsleistung erheblich
Ein Karton, der auf dem Hallenboden liegt, wird von dem Fahrzeug selbstständig umfahren. Gleiches gilt für Personen, die im Weg stehen. Der OPX iGo neo erkennt sie und berechnet automatisch die Ausweichroute, die er fahren muss, ohne den engen Kontakt zu seinem Bediener abreißen zu lassen.
Interaktion zwischen Mensch und Maschine
Möglich wird das interaktive Zusammenspiel von Mensch und Maschine durch die elektronische Ausstattung des rollenden Lagerhelfers. Tino Krüger-Basjmeleh: „Der Bediener aktiviert vor dem Start eine kleine Fernbedienung, die über Funk mit dem Fahrzeug verbunden ist. Anschließend muss er diese nur noch bei sich tragen und wird danach mit zwei Systemen gleichzeitig getrackt.“
Die Still-Ingenieure sprechen von einem „Hybrid-Tracking-System“. Dieses kombiniert die Ortung per Funksignal mit einem optischen Verfahren, dem „Motion Tracking“ (deutsch: Bewegungsverfolgung), was es dem Fahrzeug erlaubt, permanent im 360-Grad-Modus auf seine Umgebung zu reagieren und neben Regalen und Hindernissen den Bediener und andere Personen erkennen.
Ein Laserscanner tastet die Umgebung ab
Eine wichtige Rolle spielen dabei die Laserscanner, mit denen das Flurförderzeug ausgestattet ist. Sie tasten 84.000 Mal pro Sekunde die Umgebungssituation ab und geben diese Signale an einen eingebauten Rechner weiter, der die aktuelle „Lager-Topologie“ in Echtzeit interpretiert und in entsprechende Steuerbefehle umsetzt. Und damit das Fahrzeug sich merken kann, welche Hindernisse es bei der Fahrt durch die Regalgänge gerade passiert hat, besitzt es eine Art Kurzzeitgedächtnis, in dem diese Informationen gespeichert werden.
Zusätzlichen Schutz gewährleistet eine optionale 3-D-Frontkamera, die Hindernisse über die gesamte Fahrzeughöhe zuverlässig erkennt. LED-Signaleinheiten sorgen für eine sehr gute Sichtbarkeit des autonomen Fahrzeugs und zeigen außerdem an, in welchem Modus es sich befindet oder an welcher Regalzeile es sich gegenwärtig orientiert.
Die Optik spielte eine wichtige Rolle
Die LED-Elemente wirken wie ein Augenpaar und geben dem „Lagerhelfer aus Stahl“ fast etwas Menschliches. Krüger-Basjmeleh: „Stimmt, das ist auch durchaus beabsichtigt. Uns war wichtig, dass das Fahrzeug mit dem Nutzer positiv kommuniziert. Schließlich müssen die beiden den ganzen Tag miteinander arbeiten.“
Sein Kollege Volker Viereck nickt: „Wir Techniker haben ja meist einen eigenen Blick auf die Dinge. Das Ergebnis unserer Arbeit ist dann oft hoch funktional, aber in der äußeren Anmutung mitunter nüchtern und eher kühl. Daher haben wir eigens ein Design-Team auf dieses Thema angesetzt, denn das Fahrzeug sollte eine sympathische Optik erhalten.“
Austausch mit Unis und anderen Einrichtungen
Wertvolle Unterstützung bekommen die Still-Entwickler auch von anderer Stelle. Krüger-Basjmeleh: „Wir haben eine enge Zusammenarbeit mit Hochschulen wie der Technischen Uni in Hamburg-Harburg (TUHH) und verschiedenen wissenschaftlichen Einrichtungen wie beispielsweise dem Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) in Bremen. Es gibt regelmäßig Anfragen von Studenten, die bei uns ihre Abschlussarbeit schreiben wollen.“
Er selbst war mehrere Jahre Entwicklungs-ingenieur am Fraunhofer-Institut für Fabrikbetrieb und -automatisierung in Magdeburg und arbeitete dort im Bereich Robotersysteme. 2008 wechselte er zu Still, wo er heute als Senior Robotic Expert tätig ist. „Der wechselseitige Austausch mit der akademischen Welt ist sehr wichtig“, sagt er. „Er liefert wichtige Impulse und ist eine große Hilfe bei unserem Ziel, die Intralogistik noch smarter zu machen.“
100 Jahre Erfahrung im Intralogistik-Geschäft
Am 1. Februar 1920 eröffnete Hans Still mit zwei Mitarbeitern in Hamburg eine Reparaturwerkstatt für Elektromotoren. Damit legte er den Grundstein für eine Erfolgsgeschichte, die den Namen Still international bekannt machte. Denn der 22-Jährige erkannte frühzeitig die wachsende Bedeutung von Mobilität und Elektrifizierung und begann noch im Gründungsjahr damit, eigene Produkte zu entwickeln und herzustellen.
Die Lichtstation „Matador“ wurde schnell zu einem Bestseller, und 1924 begann das Unternehmen mit dem Bau kleiner tragbarer Stromerzeuger. Damit war elektrische Energie auch abseits der Stromnetze verfügbar.
1946 brachte Still mit dem EK 2000 einen innovativen Elektrokarren auf den Markt und schaffte damit den Durchbruch als Hersteller von Flurförderzeugen. Die Einführung des Elektrogabelstaplers EGS 1000 im Jahr 1949 markierte den Beginn einer neuen Ära – das Fahrzeug konnte 1.000 Kilogramm stemmen und auf der Stelle drehen, was das Arbeiten in engen Gängen erleichterte.
Nach dem Tod des Gründers wurde die Firma 1952 von Varta übernommen, 16 Jahre später schloss sie sich mit der Maschinenfabrik Esslingen zusammen. 1973 wurde Still ein Teil des Linde-Konzerns, 2006 folgte die Ausgliederung in die Kion-Gruppe, die 2013 an die Börse ging.
Heute beschäftigt Still weltweit rund 9.000 Mitarbeiter. Auch im Ausbildungsbereich ist das Unternehmen sehr aktiv; deutschlandweit qualifiziert Still mit dem Beginn des aktuellen Ausbildungsjahres über 200 Nachwuchskräfte in zehn verschiedenen Berufen an 14 Standorten. Stammsitz ist weiterhin Hamburg, wo erst vor wenigen Jahren ein neues Logistikzentrum entstand.
Der gebürtige Westfale ist seit über 35 Jahren im Medienbereich tätig. Er studierte Geschichte und Holzwirtschaft und volontierte nach dem Diplom bei der „Hamburger Morgenpost“. Danach arbeitete er unter anderem bei n-tv und „manager magazin online“. Vor dem Wechsel zu aktiv im Norden leitete er die Redaktion des Fachmagazins „Druck & Medien“. Wenn er nicht in den fünf norddeutschen Bundesländern unterwegs ist, trainiert er für seinen dritten New-York-Marathon.
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