Was macht deutsche Unternehmen eigentlich so stark beim Export? Diese Frage brachte Professor Hermann Simon Mitte der 1980er Jahre auf die Spur der vielen heimlichen Weltmarktführer hierzulande – die er dann „Hidden Champions“ taufte. Der neue Begriff machte bald selbst weltweit Karriere! Im Internet erscheinen bei Aufruf von „Hidden Champions“ 18,2 Millionen Einträge (Bing, 13.2.24). Im aktiv-Interview erklärt Simon, was ein Hidden Champion eigentlich genau ist – und warum diese Unternehmen speziell für die deutsche Wirtschaft so wichtig sind.
Wie definieren Sie Hidden Champions, welche Merkmale haben sie typischerweise?
Das sind mittelständische Unternehmen, die jeweils zu den drei führenden Firmen auf dem Weltmarkt gehören. Sie haben weniger als 5 Milliarden Euro Jahresumsatz und ihre Bekanntheit in der Öffentlichkeit ist meist gering. Das kommt daher, dass der übergroße Anteil dieser Unternehmen sich nicht mit Konsumgütern beschäftigt, sondern sich auf Industriegüter fokussiert. Diese Hidden Champions konzentrieren sich zudem auf ihre Marktnische, die sie weltweit bedienen, und erreichen jeweils in ihrem recht engen Bereich ein überragendes Know-how sowie eine hohe Fertigungstiefe.
Und bei uns sind diese Unternehmen besonders wichtig?
Genau. Hidden Champions erarbeiten einen Großteil der Exportkraft Deutschlands und damit indirekt auch des Wohlstands im Lande. Weltweit habe ich rund 4.000 Hidden Champions identifiziert, 1.600 davon haben ihren Sitz in Deutschland. Kein anderes Land hat so viele Hidden Champions wie wir!
Warum gibt es denn ausgerechnet in Deutschland so viele dieser Firmen?
Dafür kann ich mindestens ein Dutzend Ursachen aufführen. Aber ich will mich auf einige wenige beschränken. Deutschland war bis 1918 kein einheitlicher Nationalstaat, sondern eine Ansammlung von 22 Monarchien und Fürstentümern sowie drei Hansestädten. Ein Unternehmer aus München (Königreich Bayern), der wachsen wollte, musste also sehr schnell „internationalisieren“, wenn er zum Beispiel Geschäfte mit Stuttgart (Königreich Stuttgart) oder Dresden (Königreich Sachsen) machen wollte. Diese frühe Tendenz zur Internationalisierung ist bis heute typisch für deutsche Unternehmer – ganz anders als etwa in Frankreich, Japan oder den USA. Eine weitere Ursache ist, dass wir in vielen Regionen ganz spezielle Kompetenzen hatten. So gibt es im Schwarzwald heute mehr als 500 Medizintechnik-Firmen, deren Ursprung auf die dortige Uhren-Industrie zurückzuführen ist. Und in Göttingen haben wir 39 Messtechnik-Unternehmen. Warum? Weil die mathematische Fakultät der Göttinger Universität über Jahrhunderte weltweit führend war. Und natürlich spielt unser duales Berufsbildungssystem eine wichtige Rolle für die Hidden Champions: Wir haben die am besten ausgebildeten Facharbeiter der Welt.
Eine gute Basis für globale Erfolge. Haben Sie mal einige konkrete Beispiele?
Nehmen wir etwa die Firma Teamviewer aus Göppingen, die mit Software zur Fernwartung von Computern groß geworden ist. Diese Software läuft mittlerweile weltweit auf etwa 2,5 Milliarden Geräten. Oder die Firma Flexi: Sie stellt in Bargteheide Roll-Leinen für Hunde her. Das Unternehmen ist Marktführer in über 90 Ländern der Erde! Der Kettensägen-Hersteller Stihl aus Waiblingen ist oft in den Medien – die Festo-Unternehmensgruppe aus Esslingen, die sich mit Steuerungs- und Automatisierungstechnik befasst, schon weniger. Obwohl das ein Superstar unter den Hidden Champions ist. Bei meinen Besuchen in Fabriken weltweit habe ich mittlerweile eine Standardfrage: Verwenden Sie Festo-Technik? Die Antwort lautet zu 100 Prozent: Ja.
Unsere Leser dürften Festo allerdings kennen, in der Wirtschaftszeitung aktiv und hier auf aktiv-online berichten wir ja laufend aus den spannenden Betrieben der deutschen Industrie. Immer wieder dürfen wir auch bei einem Hidden Champion zu Gast sein. Welche Unternehmen sind Ihnen persönlich in letzter Zeit besonders positiv aufgefallen?
Beispielsweise Hüttenes-Albertus, eine Firma in Düsseldorf, Weltmarktführer für Chemikalien, die man zum Gießen benötigt: Deren Produkte sind energiesparend und materialschonend sowie extrem wirtschaftlich. Mit Hillebrand in Mainz haben wir den Weltmarktführer für die Logistik alkoholischer Getränke. Und noch ein Beispiel aus der Eifel, meiner Heimatregion: MK Technology sitzt in Grafschaft bei Bonn und beschäftigt sich mit dem Gießen von sehr komplexen Strukturen, dem sogenannten Investment Casting. Die Firma beliefert zum Beispiel Space X, also die Raumfahrtfirma von Elon Musk. Auf den MK-Systemen werden die hochkomplexen Brennkammern für die Space-X-Raketen gefertigt. Eine weitere Firma, die mich sehr beeindruckt hat, ist Busch-Vakuumpumpen. Der Abstand zwischen dem Rotor und dem Gehäuse in der Vakuumpumpe beträgt ein Drittel eines menschlichen Haares. So etwas muss man erstmal können.
Beeindruckende Beispiele. Welche gemeinsamen Merkmale haben denn diese ja sehr verschiedenen Firmen noch?
Eine besondere Stärke bildet die Innovation: Die Hidden Champions geben doppelt so viel für Forschung und Entwicklung aus und melden fünfmal so viele Patente wie der Durchschnitt der Industrie an. Stichwort Kundennähe: 38 Prozent der Mitarbeiter dieser Firmen haben regelmäßig Kundenkontakt – bei Großunternehmen sind es nur 8 Prozent. Stichwort Fachkräfte: Hidden Champions bilden mit einer Azubiquote von knapp 10 Prozent, gemessen an der Belegschaftsgröße, doppelt so viele Lehrlinge aus wie die Firmen im Industriedurchschnitt.
Zahlen Hidden Champions denn auch höhere Löhne?
Die Löhne liegen im guten Durchschnitt. Die Motivation, beim Besten mitarbeiten zu dürfen, ist für Mitarbeiter wesentlich zugkräftiger, die Fluktuation ist in diesen Firmen extrem gering. Die meisten Hidden Champions sind in der Provinz zu Hause und nicht in den Großstädten. Einerseits sind auf dem Land die Lebenshaltungskosten geringer, andererseits sind die Identifikation der Beschäftigten mit „ihrem“ Unternehmen und der Stolz, dort zu arbeiten, sehr groß. Und so verlassen bei den Hidden Champions durchschnittlich nur 2,7 Prozent der Beschäftigten pro Jahr die Firma – im deutschen Durchschnitt liegt der Wert bei 7,3 Prozent.
Welche Bedeutung haben Forschung und Entwicklung für das künftige Wachstum von Hidden Champions?
Dieser Punkt ist enorm wichtig, vielleicht sogar entscheidend. Denn chinesische Unternehmen vergleichbarer Größenordnung haben heute etwa die dreifache Mitarbeiterzahl in Forschung und Entwicklung wie unsere Weltmarktführer – da muss sich bei uns etwas tun. Nehmen wir Carl Zeiss, den Weltmarktführer in Optik und Photonik: Im Unternehmen arbeiten rund 6.000 Leute in der Forschung. Bei Hikvision, dem chinesischen Weltmarktführer bei Überwachungskameras, sind in diesem Bereich mehr als 10.000 Beschäftigte tätig. Nur mit sehr hoher Innovationskraft kann man die technologische Weltmarktspitze halten oder ausbauen. Ich habe 2005 Nokia in Finnland besucht, den damals unangefochtenen Weltmarktführer im Handy-Markt mit fast 50 Prozent Weltmarktanteil. Die Nokia-Manager waren aufgrund dessen auch reichlich unbesorgt: „Wir sind unschlagbar, wir haben 19.000 Mitarbeiter in der Forschung“, hieß es. Drei Jahre später habe ich in Neu-Delhi einen Vortrag des Huawei-Chefs gehört, der sagte: „Wir haben 52.000 Mitarbeiter in Forschung und Entwicklung.“ Nun, wir wissen alle, wie diese Geschichte ausgegangen ist …
Zu einem anderen Punkt: Der deutsche Mittelstand hat traditionell einen hohen Grad der Eigenkapitalisierung, finanziert sein Wachstum gewöhnlich aus den laufenden Erträgen. Sie raten nun aber neuerdings zur Börsenfinanzierung. Warum?
Nicht umsonst habe ich mein neues Buch im Untertitel „Die neuen Spielregeln im chinesischen Jahrhundert“ genannt. Denn es ist ein Merkmal der chinesischen Firmen, dass sie früh an die Börse gehen und sehr viel Geld einsammeln. Warum tun sie das? Sie investieren es in schnelles Wachstum sowie in Forschung und Entwicklung. Die Frage, die sich deutschen Mittelständlern jetzt stellt, ist also: Finanziere ich das Wachstum meines Unternehmens weiter im Wesentlichen aus dem Cashflow, dann wachse ich damit zwar stetig, aber eben langsam. Oder besorge ich mir anderswo mehr Kapital, um auch an dieser Front mit der chinesischen Konkurrenz mithalten zu können? Ich glaube, da sollten einige deutsche Familienfirmen noch mal nachdenken – und die Börse als zusätzliche Kapitalquelle nutzen. Im Übrigen kann ein Börsengang auch zur Lösung des Nachfolgeproblems beitragen. Ich bin immer wieder traurig, wenn Hidden Champions von Großkonzernen aufgekauft werden und dann oft ihre Identität und Kultur verlieren.
Hidden Champions sind oft Familienunternehmen und werden über Jahrzehnte von gestandenen Unternehmern geleitet. Ist das ein Vorteil?
Tatsächlich erreicht die durchschnittliche Amtsdauer des Geschäftsführers bei den Hidden Champions 21 Jahre. In deutschen Großunternehmen sind es nur sechs Jahre. Das sagt einerseits viel über das Thema langfristige Orientierung und Strategie aus – das kann aber in Zeiten des Wandels, wie wir sie gerade erleben, auch nötige Änderungen blockieren oder verzögern. Was mir aber wichtig ist: Die letzten 40 Jahre haben gezeigt, wie anpassungsfähig gerade der deutsche Mittelstand ist.
Wie ist es typischerweise um das Thema Führung und Miteinander bestellt?
Wenn es um Prioritäten, Strategien und Prinzipien geht, dann werden Entscheidungen oben getroffen und unten umgesetzt. Dabei haben die Mitarbeiter der Hidden Champions viel Entscheidungsfreiheit und Spielraum in operativen Fragen. Das bedeutet Tempo und Agilität: ein unschätzbarer Vorteil, um am Markt bestehen zu können. Bei manchen Großunternehmen, da will ich jetzt keine Namen nennen, gibt es sozusagen für jeden Handgriff ein eigenes Handbuch … Und der Teamgedanke, der gehört zur DNA von Hidden Champions. Ohne Ausnahme.
Sie beschäftigen sich nun mittlerweile fast 40 Jahre mit dem Thema Hidden Champions, haben sogar den Begriff geprägt. Was reizt Sie daran noch immer?
Dieses Thema bleibt unglaublich spannend, es tauchen immer wieder neue Aspekte und ungewöhnliche Entwicklungen auf. Die Idee ist übrigens in einem Gespräch mit Harvard-Professor Theodor Levitt entstanden. Er fragte mich 1987, warum die deutsche Industrie im Export so erfolgreich sei. Im Jahr davor waren wir zum ersten Mal Exportweltmeister geworden. Mein erster Gedanke war: Naja, das liegt wohl an den großen Konzernen wie Siemens, Daimler, BASF und so weiter. Aber in meiner Arbeit als Professor für Betriebswirtschaft und durch viel empirische Forschung fand ich dann heraus, dass wir diese unglaublich vielen mittelständischen Weltmarktführer haben, die für den anhaltenden deutschen Exporterfolg verantwortlich sind. Diese Unternehmen sind großenteils heute immer noch erfolgreich, trotz rasanter Veränderungen im Weltmarkt seitdem, mit den Phasen der Globalisierung als Hauptwachstumstreiber. Diese Firmen sind heute im Durchschnitt zehnmal größer als vor 30 Jahren!
Hat das auch mit dem wirtschaftlichen Aufstieg Chinas zu tun?
Ja. Deutsche Hidden Champions betreiben heute mehr als 2.000 Werke in China – umgekehrt sind es nur sieben Fabriken in Deutschland, die von Chinesen gebaut wurden. Unsere Hidden Champions haben im Schnitt heute mehr als 50 ausländische Tochtergesellschaften, sind sehr nahe an ihren Kunden in aller Welt. Wichtig ist auch das Thema Digitalisierung, bei dem viele deutsche Firmen führend sind, aber eben nicht sichtbar. Raten Sie mal, wie viele Zulieferer Apple in Deutschland hat? Es sind insgesamt 767! Aber davon ist kaum eine Firma großartig bekannt …
Wir erleben ja gerade einen groß angelegten Umbau der Wirtschaft zu noch mehr Nachhaltigkeit, Stichwort Dekarbonisierung. Neue Chancen?
Ja, dieser Bereich hat enormes Potenzial, zumal sehr viele Hidden Champions in der einen oder anderen Weise schon mittendrin stecken. Die meisten Akteure in diesem Bereich starten in Nischenmärkten. Wasserstoff beispielsweise oder neue Materialien. Das ist genau das richtige Spielfeld für diese Unternehmen. Dazu ein Beispiel: Die meisten Hemden werden heute noch aus Baumwolle hergestellt, einem Material, das bei der Herstellung unglaubliche Mengen Wasser benötigt. Aber Baumwollfasern können ersetzt werden durch Holzfasern. Weltmarktführer ist das österreichische Unternehmen Lenzing. Für ein Baumwollhemd brauchen Sie 2.700 Liter Wasser, für ein Hemd aus Lycocell – dem Material von Lenzing – 180 Liter, die Anbaufläche für ein Baumwollhemd ist zehnmal so groß wie für ein Lycocell-Hemd, und im Preis unterscheiden sich die Hemden kaum. Großes Potenzial gibt es auch in den Bereichen Recycling und Remanufacturing. Bei Kaffeekapseln etwa kann Aluminium durch biologisch basiertes Material ersetzt werden. All dies sind Arbeitsbereiche von Hidden Champions aus Deutschland.
Ganz aktuell gibt es leider gleich mehrere schwere Krisen auf einmal, die deutsche Industrie steht enorm unter Druck. Was bedeutet das für die Unternehmen, speziell auch für die Hidden Champions?
Im Moment haben wir eine Phase der Deglobalisierung, in der Wertschöpfungsketten global neu aufgestellt werden. Exporte werden durch Direktinvestitionen ersetzt, das heißt, wir müssen mehr auf Fabriken und Forschungsinstitute in China und Amerika setzen. Das gilt aber genauso in die umgekehrte Richtung. Sehen Sie sich Tesla in Schönheide an oder die geplanten Investitionen von Intel in Magdeburg, TSMC in Dresden oder die schon produzierende Fabrik des chinesischen Batterieherstellers CATL in Thüringen. Vor einiger Zeit hatte ich ein Treffen mit rund 100 chinesischen Automobilzulieferern, die alle mit Produktion nach Deutschland kommen wollen. Durch Corona, aber auch durch die geopolitischen Spannungen haben wir erkannt, dass die Risiken globaler Lieferketten einfach zu hoch sind. Der große aktuelle Trend ist aus meiner Sicht, noch stärker in die Zielmärkte hineinzugehen. Und zwar mit der ganzen Wertschöpfungskette, inklusive Produktion und Forschung. Sehr wichtig ist natürlich das Thema Digitalisierung, inklusive künstliche Intelligenz. Hier sollten wir wie schon bisher auf industrielle Märkte sowie auf transatlantische Business Ökosysteme setzen. Allein haben wir in den Massenmärkten der Digitalisierung gegen die Amerikaner und Chinesen keine Chance.