Würde ein Pianist dem Stralsunder Detlef Bahls bei seiner Arbeit zuschauen, könnte er neidisch werden. Das Fingerspiel des Umformers ist so präzise, dass es wohl auch für eine anspruchsvolle Klavierpassage reichen würde, wenn sein Arbeitsgerät ein Klavier und nicht die Steuerung einer 500-Tonnen-Presse bei Ostseestaal in Stralsund wäre.
Der 55-Jährige steht konzentriert an seinem Platz und hat vier kleine Steuerhebel vor sich, die er mit der rechten Hand bedient. Sie sind wie die Punkte eines Würfels angeordnet, sodass sie von der Handinnenfläche und den Fingern gleichzeitig erreicht werden können.
Bahls schaut auf ein 14 Millimeter starkes Stahlblech von der Größe einer Tischtennisplatte, das vor ihm am Kran der Presse hängt.In dem Moment, als sich der Druckstempel der Presse auf das Blech senkt, beginnt er virtuos, die Joysticks zu bewegen. Damit dirigiert er den Kran, an dem die Platte unter dem Stempel „hindurchschwebt“.
Insgesamt neun derartige Pressen stehen in der Stahlbauhalle der Stralsunder Spezialfirma. Sie ist ein wichtiger Zulieferer für die Werftbetriebe, denn sie bringt die Stahlplatten genau in die Form, die im Schiffbau benötigt werden. Oder, um es mit Bahls zu sagen: „Die Rundungen am Rumpf, die machen wir.“
Bahls kommt aus dem Schiffbau und arbeitet seit 1999 bei Ostseestaal. Dort ist er einer von derzeit 19 Umformern, die mit ihrem besonderen handwerklichen Geschick unterschiedlichste Stahlbleche dreidimensional kaltverformen wie sonst nirgendwo in Deutschland.
In den Anfängen vor 20 Jahren lieferte Ostseestaal vor allem Baugruppen und -Teile an Werftbetriebe. Die Umformer wurden intern geschult. Das ist bis heute so; laut Produktionsleiter Torsten Koppe dauert es vier bis fünf Jahre, bis ein Neuling den Job beherrscht.
Auch Fassadenteile des Stralsunder Ozeaneums stammen von Ostseestaal
Für die Virtuosität eines Detlef Bahls braucht es allerdings deutlich länger. Koppe: „Es hat sehr viel mit Erfahrung zu tun. Jeder Stahl reagiert unter der Presse anders.“ Dies zeigt sich vor allem bei sehr festen und sehr dünnen Blechen. In der Regel werden Stärken von 10 bis 15 Millimeter verarbeitet, wobei bis zu 40 Millimeter möglich sind. „Bei jedem Teil lernt man dazu“, sagt Bahls. „Mit der Zeit entwickelt man ein Gespür für Stahl.“
Frühzeitig vor Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 emanzipierte sich Ostseestaal weitgehend vom Schiffbau und diversifizierte die eigene Fertigung. Neben dem Stahlzuschnitt und der 3-D-Kaltverformung ging das Unternehmen dazu über, im eigens gegründeten Partnerbetrieb Formstaal vorgeformte Bauteile und Baugruppen zu verschweißen und individuelle Projekte nach den Kundenvorgaben fertigzustellen.
Die Auftraggeber kommen aus den Bereichen Schiff- und Flugzeugbau, Windkraft, Industrie und Architektur. So trägt beispielsweise die geschwungene Fassade des Stralsunder Ozeaneums den Stempel „Made by Ostseestaal“. Neben klassischem Stahlblech kommen mittlerweile auch andere Metallwerkstoffe zum Einsatz. So sind die Schweißer von Ostseestaal heute unter anderem in der Lage, Nickel 36 oder Chrom-Nickel zu bearbeiten.
Aber auch Aluminium. Mit dem Werkstoff landete das Unternehmen schließlich wieder im Schiffbau, diesmal jedoch im eigenen Haus. Vor einigen Jahren entwickelte der Betrieb die Idee, emissionsfreie Elektro-Solarschiffe für die berufliche Binnenschifffahrt zu bauen. Eine echte Marktlücke, wie sich zeigte – zehn Exemplare wurden bereits geordert. Zumeist Binnenfahrgastschiffe und -fähren, die bis zu zehn Meter breit und bis zu 45 Meter lang sind.
Bisheriger Höhepunkt war 2017 die Lieferung der weltweit ersten vollelektrischen Autofähre für Binnengewässer. Die „Sankta Maria II“ war von der Gemeinde Oberbillig bestellt worden und pendelt nun täglich über die Mosel. Aufgrund der höheren Stabilitätskriterien für Fähren besitzt die „Sankta Maria II“ jedoch keinen Aluminium-, sondern einen Stahlrumpf.
Daran mitgewirkt hat auch Umformer Detlef Bahls. Er bringt immer wieder Stahlbleche für Schiffsneubauten in Form. Wie viel Erfahrung in diesem Handwerk steckt, merkt man, wenn man ihm dabei zusieht, wie er die Metallplatten routiniert mit einem Stück Kreide für die Umformung vorbereitet.
Millimeter-Arbeit mit tonnenschweren Maschinen
Die Stellen, an denen der Druckstempel aufsetzen soll, werden mit Linien und Punkten markiert, dann startet Bahls die Maschine. Der schwere Stempel verformt das Material mit einer Leichtigkeit, als wäre es aus Wachs. Ab und zu unterbricht Bahls die Arbeit an den Steuerhebeln und greift nach einer Schablone, um die Krümmung zu kontrollieren.
In der Regel reichen drei bis fünf Stunden, dann ist das Bauteil fertig. Und das mit einer Präzision, die nicht nur technische Laien beeindruckt. Egal, an welchem Punkt die Schablonen angelegt werden: Der Spalt zwischen Stahl und Schablone darf maximal einen Millimeter hoch sein. Erst dann ist Bahls mit seiner Arbeit zufrieden.
Ostseestaal, Stralsund: Starke Partnerschaft
Bis vor wenigen Wochen agierte Ostseestaal in einem Verbund mit der Firma Formstaal. Zum 1. Februar 2018 haben beide Unternehmen nun ihre Kapazitäten gebündelt und firmieren seither unter dem Namen Ostseestaal. Der Stralsunder Betrieb gehört zur niederländischen Central Industry Group, die weltweit in den Bereichen Schiffbau, erneuerbare Energien und Offshore aktiv ist. Die neu strukturierte Ostseestaal GmbH & Co. KG beschäftigt 150 Mitarbeiter.
Begegnung mit …
Gregor Pohl: Karriere durch duales Studium
Als Gregor Pohl sich 2005 nach der Realschule um eine Ausbildung bemühte, war die Welt noch eine andere. Damals, so der 28-Jährige, waren Lehrstellen sehr rar, aber „das hat sich komplett gedreht“. Für den Rüganer sollte es „etwas Handwerkliches“ sein, daher bewarb er sich als Kfz-Mechaniker, Sanitärinstallateur und letztlich bei Ostseestaal als Fertigungsmechaniker.
Mit der gewünschten Lehre wurde es nichts, dafür bot ihm die Firma eine duale Ausbildung zum Konstruktionsmechaniker an – mit Fachschulreife als Nebeneffekt. „Es war Zufall und Glück“, sagt Pohl, der täglich von Rügen über den Strelasund zur Arbeit fährt. Nach der Lehre nutzte er die Offerte des Betriebs, neben der Arbeit ein Bachelor-Maschinenbaustudium zu absolvieren.
Da hatte das Management den jungen Kollegen bereits als künftige Führungskraft im Blick. Deshalb ermöglichte man ihm, auch den Master in Maschinenbau draufzusatteln. Als erster Ostseestaal-Mitarbeiter schloss Pohl das duale Studium erfolgreich ab. Anfang 2018 übernahm er die Leitung der Arbeitsvorbereitung.
Mein Job
Wie kamen Sie zu Ihrem Beruf?
Bei Ostseestaal hatte ich mich 2005 um eine Fertigungsmechaniker-Lehre beworben. Es wurde eine duale Ausbildung zum Konstruktionsmechaniker mit Fachschulreife.
Was gefällt Ihnen besonders?
Seit diesem Jahr bin ich Leiter der Arbeitsvorbereitung. Mich reizt vor allem die große Spannbreite dieser Aufgabe.
Worauf kommt es an?
Als Teamchef von 20 Fachleuten bin ich nicht in jedes Detail involviert. Aber ich muss erkennen, ob es läuft oder wo es hakt.