Berge, Wasser, herrliche Natur: Herbert Sick genießt seinen Ruhestand am Bodensee. Trotzdem hat der gebürtige Schwabe seit Oktober vergangenen Jahres etliche Tage in Bremen verbracht und rund 25.000 Kilometer zurückgelegt. Dafür hat sein alter Arbeitgeber gesorgt. Die Daimler AG holte den 64-Jährigen für einen „Spezialauftrag“ in den Norden.
Seit seinem Einstieg in den Konzern im Jahr 1967 hat Sick in verschiedenen Bereichen wie Messtechnik, Motorenentwicklung und Qualitätsmanagement weltweit Erfahrungen gesammelt und viele Prozesse kennengelernt. „Ich dachte immer: Zu einem Autobauer passe ich als Elektrotechniker nicht“, erzählt Sick im Rückblick. „Wenn man jedoch heute sieht, wie stark sich alles in Richtung Elektrik entwickelt, war ich hier genau richtig.“
Wichtiges Know-how für Forschung, IT, Produktion und Entwicklung
Als das Bremer Mercedes-Werk Mitte 2016 Fachleute suchte, um die Nacharbeiten im Elektrik-Elektronik-Bereich zu digitalisieren, bekam Sick einen Anruf. Seine Erfahrungen wurden gebraucht. „Über das Angebot habe ich eine Nacht geschlafen, dann zugesagt – und nichts bereut“, so Sick. In produktionsnahen Bereichen, aber auch in Forschung, IT und Entwicklung braucht es langjährige Expertise. Deshalb hat Daimler 2013 die Initiative „Senior Experts“ gestartet. „Viele ehemalige Mitarbeiter und Führungskräfte sind bereit, mit ihrem Know-how auch im Ruhestand Projekte voranzubringen. Sie können ihr Profil in einen Expertenpool einstellen“, erklärt Personalberaterin Nadja Lhotak.
Aktuell sind in dem Pool rund 550 Senior Experts registriert. Ihr Einsatz ist für maximal sechs Monate vorgesehen und kann einmal verlängert werden. In dieser Zeit arbeiten die Kollegen einzelne Tage oder auch mal in Vollzeit. Planstellen füllen sie nicht aus und auch nicht ihre alte Funktion. Die Vergütung erfolgt nach Tagessätzen, orientiert an der früheren Tätigkeit. Die Unterstützung oder auch der Bedarf wird in der Regel vom Fachbereich bei der Personalabteilung angefragt.
Senior Expert Klaus Steinbrücker war gerade vier Monate aus seinem Job raus und wollte zu einer USA-Reise aufbrechen, als seine alte Abteilung ihn um Unterstützung bat. „Ich habe die Bereiche Chemielabor, Oberflächentechnik und Klebtechnik in der Lackierung geleitet. Ein Traumjob“, betont der 66-Jährige, der 1983 als Chemie-Ingenieur bei Daimler eingestiegen war.
Vor der Lackierung wird die Karosserie in vielen Einzelschritten vorbehandelt und beschichtet, zum Schutz vor Korrosion. Nur mit viel Erfahrung lassen sich diese Prozesse beherrschen. Das wissen auch die Kollegen von Klaus Steinbrücker – und holten ihn deshalb noch einmal für fünf Monate zurück. Wieder Teil des Teams zu sein, aber in anderer Funktion, war für den Rentner anfangs ungewohnt: „Ich war jahrelang Führungskraft, plötzlich habe ich einfach nur mitgearbeitet. Da musste ich mich ganz schön zurücknehmen.“
Der Einsatz von Senior Experts ist für alle Beteiligten ein Gewinn. Das zeigen die Ergebnisse einer halbjährlich durchgeführten Umfrage. „98 Prozent der Fachbereiche würden erneut einen Senior Expert einstellen, das Feedback der Experten bestätigt diesen Wert“, so Personalerin Lhotak. Die Stärken der Altersgruppen führt Daimler in Bremen auch bei der „intergenerationellen Qualifizierung“ zusammen. Hier lassen sich ältere zusammen mit jungen Kollegen zu Werkzeugmechanikern ausbilden. „Teams mit gemischten Altersstrukturen erzielen die besten Ergebnisse. Deshalb steuern wir in diese Richtung“, erklärt Lhotak.
Dass sich das Konzept der Senior Experts auch eignet, um den Übergang vom Arbeitsleben in den Ruhestand schrittweise zu gestalten, zeigt das Beispiel von Manfred Henkis. 1991 bei Daimler gestartet, leitete er viele Jahre den Kundenservice der Betriebskrankenkasse. „Ab 61 wollte ich nur noch in Teilzeit arbeiten und auch noch mal was anderes machen“, erklärt der 62-Jährige. In der Flüchtlingshilfe des Bremer Werks hat er seit Januar 2016 eine sinnvolle Aufgabe gefunden.
Als Teil einer Arbeitsgruppe koordiniert er Maßnahmen, um die soziale und berufliche Integration von Flüchtlingen zu unterstützen. Dazu gehören unter anderem Deutschkurse genauso wie Sportangebote und auch das Brückenpraktikum, mit dem Daimler Flüchtlinge für den Arbeitsmarkt qualifiziert. „Ich hatte mich draußen auch umgeschaut und unter anderen die Option, Stadionführer bei Werder Bremen zu werden. Hier passe ich aber erst mal besser hin“, so Henkis.
Es ist nicht der Mangel an Möglichkeiten oder die Unzufriedenheit mit dem Ruhestand, der die Rentner zurück zu Daimler bringt. Vielmehr ist es die Chance, den Kollegen mit dem über Jahrzehnte erworbenen Wissen noch einmal unter die Arme zu greifen. „Jetzt ruft mich aber wieder der See“, erklärt Herbert Sick. „Zum Radfahren, Wandern und E-Fahrräder-Bauen. Mein neuestes Ruhestandsprojekt.“