Die niedersächsische Kleinstadt Werlte ist außerhalb des Emslands eher unbekannt, doch im Oktober 2021 fand dort ein großes Event statt, das aufgrund der prominenten Teilnehmerliste für bundesweite Aufmerksamkeit sorgte. Die damalige Umweltministerin Svenja Schulze war angereist, außerdem der bekannte Klimaforscher Mojib Latif, und selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel zeigte Präsenz, wenn auch nur per Videobotschaft zur Begrüßung der rund 100 Gäste.
Anlass der Feier war die Einweihung der weltweit ersten industriellen Anlage zur Produktion von CO2-neutralem E-Kerosin. Sie steht auf dem Gelände einer Biogasanlage der Firma Alterric, die hier seit rund 20 Jahren Biomethan ins Erdgasnetz einspeist. Betreiberin der E-Kerosin-Anlage ist die 2019 gegründete Firma Solarbelt Fairfuel, eine gemeinnützige Schwester der ebenfalls gemeinnützigen Klimaschutzorganisation Atmosfair mit Sitz in Berlin.
Nun liegt die erste Zwischenbilanz vor
Atmosfair entstand 2004 aus einem Forschungsprojekt des Bundesumweltministeriums und einer Gemeinschaftsinitiative, an der die Umwelt- und Entwicklungsorganisation Germanwatch und der Reiseveranstalterverband „Forum anders reisen“ beteiligt waren.
Drei Jahre nach Inbetriebnahme der Anlage in Werlte legten die Unternehmen nun eine erste Zwischenbilanz vor. Atmosfair-Geschäftsführer Dietrich Brockhagen: „Unsere Anlage hat die ersten fünf Tonnen Rohkerosin produziert und damit einen wichtigen Meilenstein zum Regelbetrieb geschafft. Wir können jetzt zeigen, dass das Verfahren für strombasiertes Kerosin in der Praxis funktioniert und beinahe 100 Prozent CO2 einspart.“
Vereinbarung mit Reisebüros
Nun können Privatpersonen und Firmen das synthetische Kerosin zur CO2-Kompensation ihrer Reise auf der Atmosfair-Website hinzubuchen. Zusätzlich bieten künftig auch zwei Münchner Veranstalter Reisen mit einer Beimischung des Atmosfair-Kerosins an.
Das begrüßt auch Atmosfair-Schirmherr Mojib Latif. „Es ist gut und wichtig“, so der Hamburger Klimaforscher, „dass mittelständische Reiseunternehmen schon heute als Vorreiter im Klimaschutz die Verantwortung für ihre Flüge und Kunden übernehmen.“
Ohne Engagement der Airlines wird es nicht gehen
Ein ähnliches Engagement fordert er von den Fluggesellschaften. Latif: „Die Airlines müssen nun ebenfalls ihren Teil des Risikos übernehmen und die Abnahme relevanter Mengen zusichern. Nur so besteht eine realistische Chance, dass im Wettlauf mit der Zeit und bei knappen Stromressourcen zumindest ein Teil des Flugverkehrs klimaverträglich wird.“
Bisher setzen die Airlines laut Atmosfair vor allem auf alternatives Kerosin aus fetthaltigen Pflanzen und Speiseresten, das aber nicht ausreichend und umweltverträglich verfügbar ist, um einen relevanten Teil des aus fossilen Quellen gewonnenen Kerosins zu ersetzen.
Noch einige Hürden
Allerdings hat auch das strombasierte Kerosin aktuell noch einige Nachteile. Es ist unter anderem deutlich teurer und außerdem noch nicht ansatzweise in der erforderlichen Menge herstellbar. Das gehört zu den Erkenntnissen aus dem Betrieb der Atmosfair-Anlage in Werlte, wie Geschäftsführer Dietrich Brockhagen ehrlich bilanziert. „Die Technologie ist noch nicht reif und muss für den Markthochlauf zeigen, dass sie wichtige Hürden nehmen kann“, so der promovierte Physiker und Umweltökonom.
Diese Hürden sind erheblich, wie schnell erkennbar wird, wenn man die Dinge im Detail betrachtet. Ein entscheidendes Manko: Die Produktion von strombasiertem Kerosin ist äußerst energieintensiv, wie sich im Praxisbetrieb gezeigt hat. Brockhagen: „In Werlte muss Atmosfair über fünfmal so viel Energie aus Wind- und Solarkraft für den Prozess aufwenden, wie am Ende im fertigen Kerosin enthalten ist.“ Aus ökonomischer Sicht ein klares Missverhältnis, auch wenn der eingesetzte Strom in der Anlage im Emsland komplett umweltfreundlich erzeugt wurde.
Ein aufwendiger Prozess mit hohem Energieeinsatz
Warum der energetische Aufwand so hoch ist, wird verständlich, wenn man die gesamte Prozesskette betrachtet. Die Pionieranlage in Werlte arbeitet mit dem Power-to-Liquid-Verfahren (PtL), dessen wichtigstes Ausgangsprodukt Wasserstoff ist. Dieser wird mithilfe eines großen Elektrolyse-Reaktors erzeugt, der hochreines Wasser in seine zwei Bestandteile Wasserstoff und Sauerstoff spaltet.
Der zweite benötigte Rohstoff ist Kohlendioxid, also CO2. Dieses stammt teils aus der benachbarten Biogas-Anlage und teils aus der Umgebungsluft.
CO2-Ersparnis von rund 96 Prozent
In der PtL-Anlage wird aus den zwei Gasen CO2 und Wasserstoff zunächst ein Synthesegas gewonnen, das anschließend im sogenannten Fischer-Tropsch-Verfahren zu synthetischem Rohöl umgewandelt wird. Insgesamt erreicht das Rohöl aus der Anlage so nach Atmosfair-Berechnungen eine CO2-Ersparnis von rund 96 Prozent gegenüber herkömmlichem Rohöl aus fossilen Ressourcen.
Den letzten Schritt in der Prozesskette übernimmt eine Raffinerie. Sie erhält das synthetische Rohöl aus Werlte per Tankwagen und verarbeitet es zu Flugbenzin der Sorte „Jet A1“ (Kerosin).
Künftig soll die Anlage 300 Tonnen im Jahr liefern
Das produzierte Rohkerosin ist in dem Sinne „CO2-neutral“, dass beim Verbrennen im Flugzeugtriebwerk nur so viel CO2 emittiert wird, wie zuvor bei seiner Herstellung der Erdatmosphäre entzogen wurde. Eine 100-prozentige CO2-Einsparung gegenüber fossilem Kerosin wird nicht ganz erreicht, weil das Rohkerosin aus dem Emsland noch transportiert und in der Raffinerie verarbeitet werden muss.
Die Anlage in Werlte läuft derzeit noch im vereinfachten Modus. Ab etwa 2026 soll sie laut Atmosfair jährlich rund 300 Tonnen strombasiertes Rohöl produzieren. Das klingt viel, ist aber wenig gegenüber dem Bedarf der Fluggesellschaften. In Zahlen: Allein die deutschen Airlines verbrauchten 2023 zusammen etwa zehn Millionen Tonnen (!) Kerosin. Die Anlage in Werlte liefert also selbst nach dem Hochfahren auf 300 Tonnen pro Jahr lediglich 0,003 Prozent dieser Menge. Es müssten folglich noch einige Tausend Anlagen gebaut werden.
Erkenntnisse aus dem bisherigen Betrieb der Anlage
Die Bundesregierung hat jedoch nach dem Haushalts-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Herbst 2023 die Mittel für die Förderung erneuerbarer Kraftstoffe auf wenige Hundert Millionen Euro zusammengestrichen. Es fehlt also an Geld, um den Bau weiterer Anlagen zu unterstützen.
Vor diesem Hintergrund kommen die Betreiber der Anlage in Werlte zu einem klaren Fazit. Geschäftsführer Brockhagen: „Selbst bei künftiger Optimierung müsste die heutige weltweite Kapazität an erneuerbaren Energien verdoppelt werden, nur um den heutigen Weltluftverkehr mit strombasiertem Kerosin versorgen zu können. Deshalb bleibt die wichtigste Klimaschutzmaßnahme vorerst: weniger fliegen.“
Außerdem, so Brockhagen, sollten strombasierte Kraftstoffe ausschließlich im Flugverkehr zum Einsatz kommen, da es dort bislang keine geeigneten Alternativen gebe. Im Straßenverkehr hält er sie aktuell nicht für sinnvoll.
Der gebürtige Westfale ist seit über 35 Jahren im Medienbereich tätig. Er studierte Geschichte und Holzwirtschaft und volontierte nach dem Diplom bei der „Hamburger Morgenpost“. Danach arbeitete er unter anderem bei n-tv und „manager magazin online“. Vor dem Wechsel zu aktiv im Norden leitete er die Redaktion des Fachmagazins „Druck & Medien“. Wenn er nicht in den fünf norddeutschen Bundesländern unterwegs ist, trainiert er für seinen dritten New-York-Marathon.
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