Sören Hertzer setzt sich ins Auto, legt den Gurt an und dreht den Schlüssel im Zündschloss. Normalerweise würde das Fahrzeug jetzt gleich anspringen, aber in diesem Fall nicht – statt des Motors hört man nur ein leises Piepen. Das Geräusch kommt aus einem Instrument am Armaturenbrett, das ähnlich schlicht wie ein Handy aus den 90er Jahren wirkt. Aber das Gerät ist smarter, es kann nämlich den Alkoholgehalt in der Atemluft des Fahrers ermitteln.
Hertzer ist Produktmanager bei Dräger in Lübeck und führt heute eine Innovation vor, die in seinem Unternehmen entwickelt wurde. Der 43-jährige Elektroingenieur pustet in das Mundstück des Geräts, das in der Fachsprache „Interlock 7500“ heißt. Nach wenigen Sekunden erscheint im Display der Hinweis „Test okay“. Hertzer dürfte nun den Motor starten und losfahren.
In vielen Ländern bereits Standard
Hätte er allerdings Spuren von Alkohol im Atem, würde ihm das Display signalisieren, dass der Test nicht bestanden wurde. Und der Motor bliebe elektronisch gesperrt, würde nicht anspringen.
Das Geschäft mit Atemalkohol-Messgeräten floriert in Flächenstaaten wie den USA, Australien, aber auch in Frankreich und Skandinavien – in Deutschland dagegen und vielen anderen EU-Ländern bislang nicht.
Steuereinheit speichert jeden Start oder Startversuch
Das könnte sich aber nun ändern, dank einer neuen EU-Richtlinie. Denn seit Anfang Juli 2024 muss die europäische Auto-Industrie in allen Neufahrzeugen eine Einbauerleichterung für die Atemalkohol-Wegfahrsperre anbieten.
Die Hersteller können sich dabei zwischen dem klassischen und dem vollständig digitalen Einbau entscheiden. In jedem Fall ist das Gerät über ein Kabel mit einem Steuergerät verbunden, das unter dem Armaturenbrett angebracht ist. Die Steuereinheit speichert jeden Start oder Startversuch – mit Uhrzeit, Tag und Promillewert.
Über 37.000 Unfälle durch Alkohol pro Jahr
Beschlossen wurde diese Neuerung auf Basis der Zahlen zu Unfällen unter Alkoholeinfluss. Nachdem die Zahlen aufgrund des Corona-Lockdowns in den vergangenen Jahren leicht gefallen waren, ging es danach wieder nach oben. Seit 2020 melden die deutschen Behörden eine deutliche Steigerung dieser Unfälle. Auch die Zahl der Verletzten steigt.
Allein 2023 kam es nach Angaben des Statistischen Bundesamts zu insgesamt 37.172 Verkehrsunfällen unter Alkoholeinfluss. Dabei wurden 18.884 Menschen verletzt, 4.262 sogar schwer, und 198 Personen kamen ums Leben.
Experten-Trio mit geballter Expertise
„Angesichts der gesellschaftlichen Dimension ist unsere Arbeit sinnstiftend“, sagt Patrick Kurras, der die Fertigung der Interlocks technologisch betreut und das Reporter-Team von aktiv im Norden gemeinsam mit Hertzer und dem Norm-Spezialisten Stefan Morley durchs Werk führt. „Die meisten unserer Kollegen haben Kinder und wollen, dass diese unfallfrei durchs Leben kommen“, ergänzt Morley.
Das Trio steht für geballtes Wissen rund um dieses Thema: Zusammen kommen die drei Experten auf 45 Jahre Zugehörigkeit zu Dräger und Expertise im Bereich der Atemalkohol-Wegfahrsperre.
Mitarbeit im EU-Normungskomitee
Stefan Morley ist mit seinen 62 Jahren so etwas wie der Grandseigneur in diesem Segment. Der Physiker steht dem EU-Normungskomitee vor, das die technische Grundlage für die EU-Gesetzgebung geschaffen hat.
In den vergangenen Jahren hatte das Dräger-Team mit Fahrzeugherstellern an der Umsetzung der Norm gearbeitet und die Schnittstelle für das Interlock-System entsprechend der EU-Norm getestet. Morley kennt wie seine beiden Kollegen die Entstehungsgeschichte der Atemalkohol-Messgeräte, er hat tiefen Einblick in die unterschiedlichen Motivationen der EU-Länder, und er weiß, wie Alkoholiker versuchen, die Geräte auszutricksen.
Schweden gilt als Vorreiter der Technik
In Deutschland regierte noch Helmut Kohl, als weit entfernt in den USA und in Australien die ersten Alkohol-Messgeräte mit Wegfahrsperre aufkamen. Für viele Autofahrer in diesen Ländern eine echte Zäsur, denn der Individualverkehr hat dort einen hohen Stellenwert. „Wer in den ländlichen Regionen der USA und Australiens kein Auto hat, kann am sozialen Leben nicht teilnehmen“, so Stefan Morley.
In Europa galt schnell Schweden als Vorreiter der neuen Technik. Das skandinavische Land führte Alkohol-Interlocks bereits 2003 verpflichtend für Behördenfahrzeuge ein. Zudem schreibt das Land Aufträge für Dienstfahrzeuge inklusive Lastwagen und Busse so aus, dass nur Hersteller mit installierten Interlocks zum Zuge kommen. Als ähnlich fortschrittlich gelten die zwei Nachbarstaaten Norwegen und Dänemark sowie – ausgerechnet – das Weinland Frankreich.
In Deutschland fehlt bisher der politische Wille
Und Deutschland? „Hier ist leider kein politischer Wille erkennbar“, sagt Morley. Die Autohersteller dagegen hätten die Notwendigkeit erkannt und bei der Norm unterstützt. Läuft das Geschäft also an Deutschland vorbei? Ganz so ist es nicht. Manche Verkehrspsychologen beispielsweise fordern bereits heute von ihren Kunden, dass sie für die Zeit der Therapie ein Alkohol-Messgerät in ihrem Auto anbringen.
Der Umsatz mit Leihgeräten ist noch relativ klein, etwas größer dagegen das Geschäft mit dem Verkauf an Speditionen und Firmen, die ihre Dienstwagenflotte damit ausrüsten. Als Vorzeigeunternehmen gilt ein Brauereikonzern, der seine gesamte Flotte mit Interlocks ausgerüstet hat.
Lässt sich das System austricksen?
Und Betrugsversuche? Gibt es die überhaupt nicht? Morley, Hertzer und Kurras lachen, bevor sie schnell wieder schweigsam werden.
Aber sie verraten immerhin so viel: Selbst scheinbar schlaue Tricks wie etwa der Einsatz eines Luftballons, der mit fremder Atemluft gefüllt ist, scheitert an der Software, die in der Steuereinheit steckt.
Auch dieses Gerät sieht eher unscheinbar aus – wie das Handteil, das Sören Hertzer nun wieder in die Vorrichtung verstaut. „Wir lassen uns eben nicht austricksen“, sagt er.